Saison-Endspurt, Auswärtsspiel im Wedding. »Männer, ihr wisst, wie man gegen Schwarzköppe spielt«, schallt es durch die Kabine. Und für alle, die es vielleicht immer noch nicht wissen, wiederholt der Trainer des kleinen Ost-Berliner Vereins noch einmal, worauf es wirklich ankommt: »Die sind technisch sicher besser, aber wenn wir denen auf den Füßen stehen, dann verlieren die die Lust oder ticken aus.« Die Spieler sollten sich auf Beschimpfungen und Tätlichkeiten einstellen, aber nicht zurückweichen. Ein tiefer Blick in die Augen, der gemeinsame Motivationsschrei – und es geht raus.
Szenenwechsel. Vor einem Auswärtsspiel im Osten der Stadt ruft der Trainer eines Neuköllner Vereins seine größtenteils türkischstämmigen Spieler im Klubhaus zusammen. »Ihr habt alle oft genug gegen die Ossis gespielt. Die laufen, kämpfen und kloppen den Ball weit nach vorne«, bemüht er die in Berlin weit verbreiteten Vorurteile und appelliert zum wiederholten Mal an das Team: »Konzentriert euch aufs Fußballspielen und lasst euch nicht provozieren. Der Schiri ist Deutscher und pfeift sowieso nicht für uns.«
Beide Partien laufen dann in einem äußerst fairen Rahmen ab – und enden jeweils mit bitteren Auswärtsniederlagen für die Autoren dieses Textes, die seit Jahren in unterschiedlichen Berliner Amateur-Fußballvereinen spielen. Dennoch gehören unfaires Spiel und bisweilen auch Gewalt zum Alltag auf Berliner Fußballplätzen: 18316 gelbe, 619 gelb-rote und 703 rote Karten wurden allein in der Hinrunde der aktuellen Spielzeit gezogen, von August bis Dezember 2015. Viele versteckte Regelverstöße tauchen in den Fairplay-Tabellen gar nicht auf, die der Berliner Fußball Verband (BFV) seit der Saison 2011/12 für alle Spielklassen erhebt und für die Erwachsenen-Mannschaften auf fussball.de ins Netz stellt.
Selbstverständlich kann diese Statistik nicht die Geschichte hinter jeder Karte erzählen. Es muss offen bleiben, welche gelbe Karte für ein überhartes Foul gegeben wurde und welche für einen subtilen taktischen Trikotzupfer oder einen Torjubel oben ohne. Genauso wenig lässt sich nachvollziehen, ob ein Platzverweis aus einer Notbremse oder einer Tätlichkeit resultierte.
Und doch lassen sich anhand der großen Menge an Daten interessante Erkenntnisse gewinnen. Für unsere Analyse haben wir die Anzahl der roten und gelben Karten der Hinrunde aller Großfeldmannschaften des organisierten Berliner Amateurfußballs ausgewertet, von der C-Jugend bis zu den Senioren, weibliche Teams genauso wie männliche, von der Kreisklasse C bis zur Verbandsliga. Insgesamt waren das 6196 Spiele von 1052 Mannschaften. Die Einschränkung auf das Großfeld, also das Spiel auf dem gesamten Platz, wie man es aus der Bundesliga kennt, beruht auf der Entscheidung, dass im Kleinfeldbereich wenig bis gar keine Karten verteilt werden und außerdem nur jeweils sieben oder acht Spieler auf dem Feld stehen, was die Ergebnisse stark verzerren würde. Zudem haben wir die Freizeitligen und den Betriebsfußball bewusst nicht berücksichtigt.
In den folgenden Kapiteln stellen wir damit weit verbreitete Klischees auf den Prüfstand: Gibt es im Osten tatsächlich härter auf die Socken? Sind Spieler mit Migrationshintergrund undisziplinierter? Hat der Berliner Fußball ein Gewaltproblem? Und welche Unterschiede lassen sich in Bezug auf Fairplay zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern erkennen?
Klischee 1
»Im Osten gibt’s auf die Socken«
»Es war schon immer so, dass wir ›in der Stadt‹ technisch besser waren, während die Mannschaften aus dem Osten gekämpft haben und gelaufen sind«, sagt Michael Fuß. Wenn sich jemand im Berliner Amateurfußball auskennt, dann ist es der mittlerweile 38-Jährige, der in seiner gut 20-jährigen Karriere nahezu für alle größeren West-Berliner Vereine von Türkiyemspor über Tennis Borussia bis zum Berliner AK aktiv war – und Tore am Fließband erzielte. Mittlerweile ist Fuß Spielertrainer beim 1. FC Neukölln in der Landesliga.
Ältere Ost-Berliner Fußballer erinnern sich hingegen daran, wie sie in den 90er Jahren jung und naiv auf die Sportplätze im Westen fuhren und das erste Mal mit Beschimpfungen konfrontiert wurden, die sie nicht einmal vom Bau oder aus der Kneipe kannten – oft spielte die eigene Mutter dabei eine entscheidende Rolle. Mittlerweile sind die Sprüche bekannt. Doch die Idee, verbale Gewalt mit harter Zweikampfführung zu beantworten, wird in vielen Ost-Berliner Vereinen immer noch hochgehalten.
Aber lässt sich diese Einstellung an der Fairnesstabelle ablesen? Legt man den vom BFV ermittelten sogenannten Unfairness-Quotienten zugrunde, spielen die Teams aus den ehemaligen Ost-Ortsteilen mit einem Wert von 1,49 sogar minimal fairer als die aus den westlichen mit 1,73. Der Quotient ergibt sich aus der Anzahl der gelben, gelb-roten und roten Karten geteilt durch die Anzahl der absolvierten Spiele einer Mannschaft – wobei gelbe Karten einfach, gelb-rote dreifach und glatt rote fünffach gewertet werden. Der »Westen« kassiert also pro Spiel fast eine Viertel gelbe Karte mehr als der »Osten«.
Ist das nun ein Kulturunterschied? Der Sportsoziologe Gunter A. Pilz glaubt nicht recht daran: »Diese Beobachtung wirkt für mich wie ein Artefakt.« Mit diesem Begriff wird in der Wissenschaft ein Zusammenhang bezeichnet, der sich zwar aus Daten ergibt, aber keinerlei Kausalität aufweist und eventuell auch über andere Faktoren zustande kommt. So könnte es bei der Bewertung etwa eine viel wichtigere Rolle spielen, dass es im Osten im Verhältnis mehr Frauen- oder Jugendmannschaften gibt – doch dazu später mehr.
Wichtig an dieser Stelle: Das Klischee von den tretenden Fußballern aus dem Osten hält einer Überprüfung durch die vorliegende Statistik nicht stand. Im Gegenteil: Ist der Ost-West-Unterschied in den Unfairness-Quotienten noch sehr gering und auf mehrere Faktoren zurückzuführen, ergibt sich beim Blick auf die Liste der fairsten und unfairsten Mannschaften der Hinrunde ein ziemlich deutliches und, wenn man so will, überraschendes Bild. Entgegen dem Klischee, dass es im Osten auf die Socken gibt, kommen mit dem SF Berlin 06 II aus Weißensee und dem SV Pfefferwerk aus Prenzlauer Berg, beide Kreisliga C, die zwei fairsten Herrenmannschaften Berlins aus dem Osten.
Klischee 2
»Die Ausländer haben sich nicht im Griff«
Aber stimmt dann vielleicht das genaue Gegenteil? Dass die West-Teams unfairer spielen, und unter ihnen besonders die mit einem hohen Anteil von Spielern mit Migrationshintergrund? Unter den zehn laut Statistik unfairsten Teams befindet sich nur ein einziges aus dem ehemaligen Osten. Und selbst dieses, der in Baumschulenweg ansässige FC Liria, passt nicht ins Raster der klassischen Ost-Vereine. Er wurde 1985 als FC Kosova gegründet, auch heute sind fast nur Spieler mit kosovarisch-albanischem Migrationshintergrund für Liria – albanisch für Freiheit – aktiv.
Ein Blick bei fussball.de auf die Aufstellungen der Berliner Mannschaften, die in der Hinrunde die meisten gelben und roten Karten kassiert haben, scheint das nächste im Berliner Fußball weit verbreitete Klischee zu bestätigen: »Südländer«, wie Spieler etwa mit einem türkisch oder arabisch klingenden Namen von vielen »deutschen« Spielern genannt werden, haben sich einfach nicht im Griff. Ein Blick auf die Ortsteile, in denen die Mannschaften ansässig sind, lässt zudem vermuten, dass vor allem in sogenannten Problembezirken besonders unfair gespielt wird.
Mit gleich drei Mannschaften – dem 1. FC Neukölln, NSC Marathon 02 und dem NFC Rot-Weiß – ist etwa der Ortsteil Neukölln am häufigsten vertreten. Dazu erklärt Soziologe Gunter A. Pilz, die Wahrscheinlichkeit für unfaires Spiel auf dem Fußballplatz sei besonders hoch in sozial schwächeren Gegenden, in denen viele Menschen mit Perspektivlosigkeit zu kämpfen haben und sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen. »Der Fußball ist oft ein Mittel, um schulische, berufliche, gesellschaftliche oder sonstige Niederlagen zu kompensieren«, sagt Pilz. »Wenn das misslingt, kommt es schnell zu Frustrationserlebnissen, die sich auch in unfairem Spiel entladen.«
Einer der beiden »Spitzenreiter« in der Liste der unfairsten Herrenmannschaften der Hinrunde ist der an der Sonnenallee beheimatete 1. FC Neukölln mit einem Unfairness-Quotienten von 5,2. Michael Fuß ist dort zwar erst seit Januar Spielertrainer und hat sich die Fairnesstabelle zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht genau zu Gemüte geführt. Dass sein neuer Verein zu viele Karten kassiert, überrascht ihn aber nicht: »Türkisch- oder arabischstämmige Spieler sind oft emotionaler und wenn in der Mannschaft dann die Disziplin fehlt, kommt es häufiger mal vor, dass ein Spieler vom Platz fliegt«, sagt Fuß, der fließend türkisch spricht und zum Islam konvertiert ist.
Ähnliche Erkenntnisse hat auch Gunter A. Pilz erlangt. Bei einer Befragung von C-Jugend-Spielern gaben in einer in Niedersachsen durchgeführten Studie Spieler mit türkischen Wurzeln doppelt so häufig an, sich nach Provokationen zu revanchieren, als Spieler ohne Migrationshintergrund. Ebenfalls doppelt so häufig gaben sie an, regelmäßig mit Worten provoziert zu werden.
Dabei sind es laut Pilz weniger unmittelbare Diskriminierungserfahrungen wie etwa Beschimpfungen als »Kanake«, die zu einem grundsätzlich aggressiveren Verhalten führen. Es geht mehr um eine abstrakte, aber dennoch negative Erwartungshaltung à la ›Der wird es sowieso zu nichts bringen‹, die schon früh zum Beispiel in der Schule das Gefühl des Abgehängtseins vermittelt – und das nur aufgrund äußerer Faktoren wie der Hautfarbe oder des Nachnamens.
Doch auch wenn es im Großen solche Erklärungen gibt, dürfen sie, davon ist Spielertrainer Fuß überzeugt, im Kleinen nicht als Ausrede für Undiszipliniertheiten herhalten. Fuß will deshalb bei der mangelnden Selbstbeherrschung ansetzen. Dabei will er sich ein Beispiel an seinen eigenen ehemaligen Trainern nehmen, die bei Regelverstößen konsequent durchgriffen. »Wir waren bei Türkiyemspor damals auch fast alles ›Ausländer‹ – da ist aber niemand ausgetickt. Wenn einer die Klappe nicht halten konnte, wurde er sofort ausgewechselt«, erinnert sich Fuß.
Der Spandauer FC Veritas spielt in der statistisch unfairsten Liga, der achtklassigen Bezirksliga, und hat wie der 1. FC Neukölln 48 gelbe Karten und acht Platzverweise kassiert. Damit teilen sich die beiden Mannschaften den unrühmlichen Spitzenrang in der Berlin-weiten Unfairnesstabelle mit einem Wert von 5,2. Trainer Ümit Gündüz sieht bei seiner Mannschaft ähnliche Probleme wie Michael Fuß bei seiner und versucht erst gar nicht, die Schuld bei anderen zu suchen. »Meine Spieler sind noch jung und manchmal einfach zu dumm. Wir lassen uns zu einfach provozieren«, sagt der 35-jährige Gündüz, der Veritas bereits in der vierten Saison trainiert. Zusammen mit dem Vorstand habe er aber reagiert und sich in der Winterpause von vier besonders undisziplinierten Spielern getrennt.
Dass auch die Auswertung einer gesamten Hinrunde nur eine Momentaufnahme ist, zeigt allerdings ein Blick zurück. In der vergangenen Saison waren Neukölln und Veritas trotz eines in weiten Teilen identischen Spielerkaders deutlich fairer, wenngleich immer noch über dem Durchschnittswert ihrer Spielklassen. Dass es grundsätzlich falsch ist, einen ganzen Verein wegen einer besonders unfairen Mannschaft zu stigmatisieren, zeigt der Vergleich mit anderen Teams aus demselben Klub. Besonders deutlich wird das beim 1. FC Lübars und dem NFC Rot-Weiß. Beide Klubs sind sowohl unter den zehn unfairsten als auch unter den zehn fairsten Mannschaften vertreten. Daher wäre der Schluss von einem Team auf einen Verein oder sogar auf einen Bezirk weder sinnvoll noch von den erfassten Daten gestützt.
Das Fairplay-Problem nur auf Migranten und die vermeintlichen Problemkieze zu beschränken, greift ebenfalls zu kurz, auch da korrigiert die Statistik die in mancher Umkleidekabine gefühlte Wahrheit. So gehört die postmigrantisch geprägte zweite Mannschaft des ASV Berlin zu den fairsten Teams im gesamten Herrenbereich. In zwölf Spielen haben die Moabiter keinen Platzverweis und nur zehn gelbe Karten kassiert. »Uns ist schon bewusst, dass wir sehr fair spielen«, sagt Spielertrainer Yusif Khalife. Das Geheimnis der wenigen Karten hört sich ziemlich einfach an: Die Mannschaft lasse den Schiedsrichter einfach seine Arbeit machen – ohne zu meckern, zu provozieren oder hart zu foulen. »Wir machen uns keinen großen Druck. Wir wollen Spaß haben und am Montag gesund zur Arbeit oder zur Uni«, beschreibt Khalife die Herangehensweise der zu Saisonbeginn neu in der Kreisliga C angemeldeten Mannschaft.
Doch nicht nur rühmliche Einzelfälle aus unteren Ligen, in denen der sportliche Ehrgeiz oft eine kleinere Rolle spielt als in höheren Spielklassen, widersprechen letztlich dem Vorurteil, dass in sozial schwachen und migrantisch geprägten Gegenden immer unfairer gespielt wird als anderswo: Bildet man den Mittelwert der Unfairness-Quotienten aller Herrenmannschaften aus einem Ortsteil, liegen Neukölln (3,34) und Kreuzberg (2,73) nicht einmal in den Top Ten, anders als Wilmersdorf (3,48), Charlottenburg (3,61) und Frohnau (4,06). Und dass Gesundbrunnen (2,81) und Wedding (2,69) in der Hinrunde sogar fairer als der genau bei 3,0 liegende Durchschnitt aller Ortsteile spielten, war in Anbetracht der gängigen Vorurteile auch nicht unbedingt zu erwarten.
Klischee 3
»Schiris verpfeifen ganze Spiele«
Vielleicht liegt es am uniformartigen schwarzen Trikot, vielleicht an der Rolle als Autoritätsfigur oder vielleicht auch nur an seinem Namen oder seiner Herkunft. »Ich wurde schon als Nazi beschimpft, obwohl ich nur ein glasklares Foul gepfiffen habe«, erinnert sich Torsten. Der begeisterte Schiedsrichter pfeift seit 22 Jahren in den unteren Spielklassen Berlins. Seinen Nachnamen möchte er nicht unbedingt veröffentlicht sehen – weniger aus Angst, sondern vielmehr, weil er findet, dass sich Schiris und ihre Egos im Hintergrund halten sollten.
Auf die Fairness-Tabelle schaut Torsten nicht, wenn er sich morgens auf Spiele vorbereitet. Er bemüht sich, jede Partie »komplett bei Null« zu beginnen. Grundsätzlich sei es aber schon so, dass Spieler »nicht-deutscher Herkunft« – bei dieser Formulierung wird Torsten sehr vorsichtig – »oftmals eine heftigere Mentalität« aufweisen. Wenngleich immer von beiden Seiten provoziert werde. Körperlich wurde er noch nie angegangen, aber einige Male fehlte nicht viel, sagt er.
Wenn es um Fairness geht, stehen die Schiedsrichter im Mittelpunkt. Sie müssen zwischen 22 zuweilen hitzköpfigen Spielern vermitteln – und das in den unteren Klassen bis zur Bezirksliga auch noch meistens alleine, ohne Assistenten. Es allen recht zu machen, gelingt da kaum. »Als ausländische Mannschaft sind wir mit Türkiyemspor schon benachteiligt worden, vor allem wenn wir in den Osten gefahren sind«, erinnert sich Michael Fuß an seine Zeit beim lange wichtigsten Migranten-Club der Stadt. Oft seien die Unparteiischen herablassend oder respektlos aufgetreten. Ümit Gündüz vom SFC Veritas berichtet sogar, dass seine Spieler vom Schiedsrichter schon »Kameltreiber« genannt wurden.
Gibt es also trotz aller Schwüre auf die eigene Neutralität eine gewisse Tendenz bei den Schiedsrichtern ohne Migrationshintergrund, härter gegen Spieler mit Migrationshintergrund vorzugehen – ein anderer Faktor, der die letztlich doch hohe Anzahl migrantisch geprägter Vereine unter den unfairsten Berlins zum Teil erklären könnte? »Das ist im Bereich des Spekulativen«, betont Sportsoziologe Gunter A. Pilz. Er sagt aber auch: »Rund 80 bis 90 Prozent der Attacken auf Schiedsrichter werden von Menschen mit Migrationshintergrund verübt. Die Unparteiischen sind ja auch nur Menschen und wollen sich vielleicht präventiv schützen, in dem sie schneller mittels Karten Grenzen aufzeigen.« Dies könne auch unbewusst geschehen. Seine Forschung in Niedersachsen habe jedoch gezeigt, dass die angebliche Diskriminierung ausländischer Spieler durch die Schiedsrichter meist den Fakten nicht standhalte und Opferrollen konstruiert würden: Wer schon mit der Erwartung ins Spiel gehe, gleich verpfiffen zu werden, fühle sich eben schon bei der ersten strittigen Entscheidung absichtlich benachteiligt und sehe hinter dieser Benachteiligung Motive wie Fremdenfeindlichkeit. Allerdings – das wird zwar nicht offiziell erfasst, lässt sich aber an den Namen auf den Schiedsrichterlisten des Verbandes ablesen – steigt der Anteil der Schiedsrichter mit Migrationshintergrund in Berlin ohnehin kontinuierlich. Die Zeiten, in denen fast ausschließlich »Deutsche« Spiele pfiffen, sind bereits jetzt vorbei.
Abpfiff auf dem weitläufigen Rasen an der Hubertusallee in Grunewald. Das Berlin-Liga-Spiel zwischen dem heimischen Berliner SC und Sparta Lichtenberg endet 2:2, das Ergebnis interessiert Minuten später aber niemanden mehr. Anhänger der Heimmannschaft betreten den Platz und nähern sich einigen Lichtenberger Spielern. Sogar von einer gezückten Waffe ist später die Rede. Kurz darauf eskaliert die Situation völlig. In einer Menge von 40 bis 50 Personen entwickelt sich eine Schlägerei. Die Polizei rückt mit Mannschaftswagen an, ein Krankenwagen fährt vor. Fotos der Ereignisse zeigen, wie ein Sparta-Spieler, der zuvor selbst zur Eskalation beigetragen hatte, von mehreren Personen festgehalten und brutal ins Gesicht geschlagen sowie getreten wird. Er wird schwer verletzt, es besteht kurzzeitig die Gefahr, dass er sein Augenlicht verliert. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, berichtet ein Augenzeuge, Journalist der »Fußball-Woche«. Je ein Spieler pro Mannschaft wird vom Sportgericht des Berliner Fußball-Verbandes für mehr als ein Jahr gesperrt.
Fälle wie dieser aus dem April 2015 sind glücklicherweise sehr selten im Berliner Amateurfußball. In der vergangenen Saison gab es 79 Spielabbrüche. Bei einer Gesamtzahl von etwa 34 000 Begegnungen entspricht das einem Abbruch etwa jedes 430. Spiels. 2007/08 war die Quote bei mehr als 100 Spielabbrüchen noch deutlich höher.
Die Ursachen für das vorzeitige Ende eines Spiels sind dabei durchaus unterschiedlich. Auch wenn eine Mannschaft wegen Verletzungen oder sportlicher Unterlegenheit aufgibt oder das Wetter nicht mitspielt, gilt dies als Abbruch. Zudem wird etwa ein Drittel der Spiele neu angesetzt und nicht als Bestrafung gegen eine oder gar beide Mannschaften gewertet, weil der Schiedsrichter nach Ansicht des Sportgerichts nicht alle Möglichkeiten für eine Fortsetzung ausgeschöpft hatte.
In der Hinrunde der laufenden Saison waren es 39 Spiele, die nicht ordnungsgemäß beendet wurden, davon 19 bei den Erwachsenen und 20 in der Jugend. Das liegt ziemlich genau im Schnitt der vergangenen Spielzeiten. BFV-Vizepräsident Gerd Liesegang bezeichnet die Zahlen als leicht rückläufig, stellt aber klar: »Jedes abgebrochene Spiel ist eines zu viel.«
Gerd Thomas, 2. Vorsitzender des Schöneberger Vereins FC Internationale, hat schon häufiger erlebt, wie Spieler oder Schiedsrichter seines Klubs Opfer von körperlichen Angriffen wurden. Im vergangenen Jahr hat er eine Arbeitsgruppe gegen Gewalt im Jugendfußball gegründet. »Wir müssen aufpassen, dass wir junge Spieler und Schiedsrichter nicht verlieren«, sagt Thomas. Der Verband tue sich schwer, unbequeme Themen wie die Häufung von Vergehen in bestimmten Vereinen offen anzuprangern. Zudem fordert Thomas ein konsequentes Durchgreifen der Vereine. Zu oft würden Vorstände ihre Spieler oder Trainer auch bei schweren Verstößen in Schutz nehmen und damit ein fatales Signal senden.
Auch wenn Änderungen in einem großen Verband wie dem BFV mit seinen fast 150 000 Mitgliedern eher langsam vorankommen, hat sich in den vergangenen Jahren durchaus etwas getan. Nach besonders schweren oder wiederholten Tätlichkeiten werden Spieler seit nunmehr zwölf Jahren zu Anti-Gewalt-Kursen geschickt. »Insgesamt wurden zwischen 450 und 500 Spielern zu Seminaren verurteilt und nur zwei davon sind auf dem Fußballplatz rückfällig geworden«, sagt Gerd Liesegang, »das ist ein toller Wert.« Fallen Spieler dennoch mehrfach mit Tätlichkeiten, Bedrohungen oder anderen groben Unsportlichkeiten auf, bleibt dem Verband noch die sogenannte »Schwarze Liste«. Wer auf dieser landet, darf in ganz Deutschland nicht mehr im Verein Fußball spielen.
Damit es zu solch drastischen Schritten erst gar nicht kommen muss, hat der BFV weitere Sicherheitsmaßnahmen verabschiedet. So sollen die Vereine neuerdings einen Sicherheitsbeauftragten benennen und der jeweilige Heimverein ist dazu verpflichtet, »eine ausreichende Anzahl« an Ordnern zu stellen. Treffen zwei Mannschaften aufeinander, bei denen es in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen gekommen ist, versucht der Verband in Absprache mit den Vereinen, dem Sportamt und eventuell auch der Polizei, durch erhöhte Sicherheitsvorkehrungen für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. Dies kann etwa durch vorherige Besprechungen, die Ansetzung erfahrener Schiedsrichter oder Polizeipräsenz erfolgen. Manchmal aber auch einfach durch ein vom BFV gefördertes gemeinsames Frühstück der Kontrahenten vor dem Spiel.
Klischee 5
»Vereine erziehen zur Fairness«
Eine Traube von Spielern wuselt um den Ball, alle wollen ihn haben und ins Tor bugsieren. Nur zwei der Kinder finden offenbar gerade die Zugvögel über dem Platz spannender und lassen ihre Aufmerksamkeit nur widerwillig von ihrem Trainer auf das Spiel lenken. Fußball in den unteren Jugendbereichen hat zumindest auf diesem Kreuzberger Platz seinen spielerischen Charakter noch nicht verloren. Einen Schiedsrichter sucht man vergebens. Einige der sieben- bis achtjährigen F-Jugendlichen haben nach Spielende das Ergebnis schon wieder vergessen und sind mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Wenig später betritt die C-Jugend das Feld. Einige Spieler haben schon ihren ersten Bartflaum, die Frisuren sitzen wie bei den großen Vorbildern aus dem Profifußball. Nach etwa zehn Minuten muss der ebenfalls junge Schiedsrichter erstmals in die Tasche greifen – ein Spieler hatte mit einem taktischen Foul einen gegnerischen Konter abrupt beendet. Sein Trainer kommentiert anerkennend: »War richtig.«
Fußball ist eine Schule fürs Leben. Eltern hoffen auf eine Erziehung hin zu Fairness, Toleranz und Ehrlichkeit. Das Klischee: Während auf dem Bolzplatz nur die Gesetze der Straße und das Recht des Stärkeren gelten, versprühen im Verein die Trainer und Betreuer den Fairplay-Gedanken.
Ein Blick auf die Daten bringt diese Hoffnung jedoch stark ins Wanken. So spielen bei den ganz Kleinen Karten überhaupt keine Rolle mehr, G- und F-Junioren treten seit drei Jahren sogar komplett ohne Schiedsrichter an, wie BFV-Vize Gerd Liesegang stolz berichtet. »In dem Alter sind die Kinder noch so fair, dass das kein Problem ist.« Etwa ab dem zehnten Lebensjahr wird dann jedoch öfter Foul gespielt, und es gibt erste Zeitstrafen oder sogar vereinzelt Karten. So richtig lässt sich die Tendenz zum unfairen Spiel jedoch erst auf dem Großfeld erfassen, auf dem ab der C-Jugend gespielt wird: Liegt der Unfairness-Quotient bei den männlichen C-Junioren noch bei 0,73, kassieren B-Jugend-Mannschaften im Schnitt schon eine halbe gelbe Karte mehr pro Partie. Auch wenn herausgerechnet wird, dass die Älteren zehn Minuten länger spielen, ist das eine deutliche Steigerung. Bei den A-Junioren kommt dann noch einmal eine gute halbe gelbe Karte pro Spiel hinzu, bevor die Unfairness im Männerbereich ihren Spitzenwert von 2,62 erreicht.
Biologistische Erklärungen wie die verstärkte Hormonausschüttung in der Pubertät greifen zu kurz, um diese Beobachtung einzuordnen. »Wenn es am Testosteron liegen würde, müsste ja bei den 13-, 14-Jährigen in der C-Jugend am meisten passieren«, sagt Soziologe Pilz. Er und sein Team konnten mit Spielerbefragungen in Niedersachsen zeigen, dass die Bereitschaft zu absichtlichen Fouls und Provokationen von der C- bis in die A-Jugend konstant zunimmt. Die Trainer und Clubs spielten dabei eine Schlüsselrolle, meint Pilz: »Es findet eine Sozialisation statt: Spieler, die länger im Verein spielen, sind dazu eher bereit.« Tatsächlich wird die gezielte Provokation des Gegenspielers, das überharte Einsteigen, um ein Zeichen zu setzen oder eben das versteckte oder taktische Foul im Club gelernt. Der beliebte Euphemismus: Das ist die zum Erfolg nötige Cleverness.
Eine weitere Erklärung für den Anstieg der Kartenzahl in Richtung Erwachsenenalter ist, dass auf dem Weg zur angestrebten Profikarriere alle Mittel recht sind. Gleichzeitig bildet sich auch so etwas wie ein Kodex unter den Spielern heraus, beispielsweise, dass der Ball bei einer Verletzung ins Aus geschossen wird, oder ›fair gefoult‹ wird, das heißt, möglichst ohne Verletzungsgefahr. Dass die Unfairness bei den Männern am größten ist, wundert Pilz nicht. Hier sei eben auch der Erfolgsdruck am größten, da es für die Beteiligten zum Teil um Geld geht. In Berlin gibt es schon in der Bezirksliga Mannschaften, die einzelne Spieler mit Geldprämien oder anderen Vergünstigungen locken. Im Senioren-Bereich nimmt der Unfairness-Quotient hingegen wieder auf 1,85 ab. »Vielen geht es dann wieder eher um das gemeinsame Bier nach dem Spiel«, vermutet Pilz. Langfristig, in Kombination mit der Altersmilde, ist das Vereinsleben der Fairness also zumindest nicht nachweislich abträglich.
Klischee 6
»Frauen spielen fairer«
Sportlerinnengruß. Nach dem Abpfiff treffen sich Spielerinnen, Ersatzspielerinnen und die Trainer beider Teams noch einmal am Mittelkreis. Die Frauen stehen sich in zwei Reihen gegenüber. Nachdem der Schiedsrichter den Endstand verkündet hat, hebt die Spielführerin der Gastmannschaft die Stimme: »Wir danken Gegner und Schiedsrichter mit einem dreifachen...« »FFC Britz, FFC Britz, FFC Britz« fallen ihre Mitspielerinnen ein, hören sich den Sportlerinnengruß der Gegnerinnen an, dann wird der Reihe nach abgeklatscht.
Im Männerbereich ist das Bedürfnis, sich nach dem Schlusspfiff noch einmal im Mittelkreis zu versammeln, eher gering. Wenn überhaupt, nuschelt der Kapitän mehr aus Pflichtbewusstsein und weniger aus Überzeugung die Gruß-Formel, während es seine Kollegen, die jetzt eigentlich so etwas wie »Gut Sport« brüllen sollten, schon unter die Dusche, zu den Zuschauern oder in verbale Scharmützel mit Gegenspielern zieht.
Derzeit nehmen immerhin 89 weibliche Großfeld-Mannschaften am Berliner Spielbetrieb teil. Getreu dem verbreiteten Klischee spielen sie tatsächlich deutlich fairer als die Jungen und Männer: Die 89 weiblichen 11er-Teams kommen im Schnitt gerade einmal auf einen Unfairness-Quotienten von 0,35 – in der Hinrunde gab es nur fünf rote Karten. »Ich glaube nicht, dass Frauen grundsätzlich friedfertiger sind als Männer«, kommentiert allerdings Gunter A. Pilz diese Statistik. In der Leichtathletik dopten sie genauso wie ihre männlichen Kollegen, in anderen Sportarten seien sie mindestens genauso ehrgeizig und aggressiv. Im Berliner Frauenfußball scheint dieses Aggressionspotenzial jedoch seltener zu Tage zu treten.
Nachgefragt bei einer aktiven Spielerin. »Bei Männern geht es halt immer ums Ganze, das merkt man schon daran, wie todernst sie über Fußball reden«, sagt Katharina Kube. Die 21-Jährige kennt sich im Berliner Frauenfußball bestens aus, managt sie doch als Spielertrainerin das Damen-Team des FFC Britz. Nebenbei trainiert Kube eine Mädchenmannschaft und ist als Schiedsrichterin im Jugendbereich tätig. Spontan kann sie gar nicht sagen, ob sie überhaupt schon einmal eine Karte gezückt hat. Auch taktische Fouls kommen zumindest in den unteren Frauenligen kaum vor. »Die meisten haben das taktische Wissen gar nicht, dass man so was machen kann«, sagt Kube, die sich selbst als »eher robuste« Zweikämpferin beschreibt. Erst in den höheren Ligen nimmt der Ehrgeiz zu: In der Frauenbundesliga liegt der Unfairness-Quotient immerhin schon bei 1,35, ist also fast dreimal so hoch wie der Schnitt der Berliner Frauenligen (0,46). »Es geht ja erst in der Regionalliga so langsam los mit Geldverdienen, darunter ist alles zum Spaß«, weiß die ehemalige Auswahlspielerin Kube, die einige Spielerinnen aus diesen professionelleren Ligen kennt.
Fazit
Daten sagen nicht alles, aber viel
Das Klischee von den fairer spielenden Frauen wurde durch die Daten bestätigt, der Mythos von den rustikalen Ost-Fußballern widerlegt – zumindest, was die Kartenstatistik angeht. Was das Klischee von der mangelnden Selbstbeherrschung von Spielern mit Migrationshintergrund betrifft, bleibt diese ambivalent.
Was diese Untersuchung des Amateurfußballs, der bislang kaum Gegenstand datengestützter Analysen ist, nicht leisten kann, ist, die Hintergründe jedes Regelverstoßes und damit die genauen Ursachen auch manch statistischer Auffälligkeiten auszuleuchten. Liegt es da, wo Spieler mit Migrationshintergrund tatsächlich häufiger bestraft werden als andere, auch am teils unbewussten Rassismus mancher Schiedsrichter – und Spieler? Hier sind alle Akteure gefordert, ihr Handeln immer wieder zu überprüfen.
Was die Datenanalyse ebenfalls nicht liefert, sind Aussagen über die Beziehungen einzelner Mannschaften zueinander. Nur deshalb haben hier zum Beispiel die antisemitischen Übergriffe und Beleidigungen, unter denen Spieler und Betreuer des TuS Makkabi immer wieder zu leiden haben, keine Rolle gespielt.
Vor allem bleibt die durchgeführte Untersuchung eine Momentaufnahme. Der Volkssport Fußball verändert sich so schnell wie die Gesellschaft. Seit dem 13. Februar rollt in den Amateurligen der Hauptstadt wieder der Ball. In der Rückrunde wird sich manches Team vielleicht ganz anders verhalten. Denn wie schon Otto Rehhagel wusste, in einer Zeit, als Fairnesstabellen allenfalls in den Notizblöcken von Trainern oder Journalisten existierten: Die Wahrheit liegt auf dem Platz.